Sechster Teil:
PostScript – welches hoffend zu finden sucht.
November 2023.
PS. Das besagt, was es besagt: Wie meinte einer der verstorbenen Sups: »Die Geschichte wiederholt sich genau zweimal: als Unglück, und noch einmal als Unglück.« Und dieses Axiom des Lebens trifft zu oder nicht, je nachdem – denn ich habe ein Paket mit einer kleinen Notiz erhalten. Nein, es ist nicht von SEGALMEX (die exportieren nur und importieren nicht). Das Paket trägt Poststempel einer »entfernten Geographie« aus den weitweg liegenden Europas. Der Datumstempel ist kaum zu erkennen, aber der Absender ist zu sehen: »Ich bin nicht Don Durito de La Lacandona, bitte nicht verwechseln. Ich bin nur ein Wesen der Künstlichen Intelligenz, eine KI.« Diese Aussage hätte mir genügen müssen, um mich zu warnen – jedoch wie es so kommt, las ich die Notiz und öffnete das Paket. Der Schrieb ist kurz und lautet:
»Mein verehrter und niemals vermisster Cyrano: Ich werde mich kurz und knapp halten. Ich komme nach dort, um dir beizustehen. Erwarte mich nicht, denn ich reise inkognito. Zwar habe ich mich noch nicht entschieden, ob ich mich als Wolke oder Bad Bunny oder Luis Miguel oder Al Pacino tarne. Letztendlich etwas, was mir erlaubt, unauffällig unterwegs zu sein, du verstehst. Als nächstes und da es bereits stürmt, schicke ich dir mein Buch. Das ist alles. Aus einem Winkel in … Slowenien …? Äh, wie heißt noch einmal dieser Ort? Zypern …? Ach, ich glaube, ich werde »Osteuropa« darunter setzen … Wie, das auch nicht? Na gut, dann zur Hölle mit der Geographie von oben: aus »Fuck The Cardinal Points« – Aufenthaltsort bekannt. Postleitzahl … Jetzt hört mal, wie lautet die Postleitzahl. Huch? 666? Das ist doch ein Scherz, oder? Nein? Ist hier jemand, der mir bestätigen kann, dass das ein Scherz ist? Hallo? Hallo? Unterschrift: Durito als KI getarnt.«
Ja, ich weiß. Jedoch glaubt mir, wenn es sich um Durito handelt, ist dies wirklich eine kurze und knappe Nachricht. Auf der Umschlagvorderseite des Buches ist – hat da eine*r Zweifel? – ein Käfer abgebildet … Mit Smoking …? Es trägt den sehr beruhigenden Titel »Handbuch zum Überleben im Falle eines globalen Zusammenbruchs«. Und weiter unten steht: »Alles, was Sie wissen möchten, um sich dem Ende der Welt mit Stilvermögen und Eleganz gegenüber zu stellen. Entwerfe das ideale Outfit für das Ende aller Zeiten. Sei die Sensation in der Apokalypse. Jaaaaa!«
Besagtes Buch enthält lediglich eine blanke Seite und ein in einer Ecke verlorenes PostScript:
»SUCHT NACH DENEN, DIE BEREITS DIE HÖLLE ERLEBEN, WELCHE EUCH ALLE ERWARTET. SUCHT NACH DENEN, DIE SUCHEN.«
PS. Für die Sucherinnen: Vor ihnen waren lediglich die Frauen der FNCR beispielsweise bekannt. Später jedoch tauchten andere auf, mir scheint, seit der Präsidentschaft von Vicente Fox. Zuerst einige wenige und innerhalb der Geographie verstreut. Später mehr. Danach in Gruppen. Jetzt innerhalb des verborgenenGrabes, welches »Mexiko« genannt wird – gehen sie von einem Ort zum anderen, auf der Suche nach denen, die sie vermissen. Es gibt keinen, der ihnen hilft oder sie unterstützt. Sie stehen alleine, in dem Sinne: Sie haben nur sich selbst. Ja, es sind auch Männer dabei, jedoch die Mehrheit sind Frauen. Nein, sie sind nicht gerade in Mode. Die Verschwundenen wählen nicht, und ja nun, darum geht es gerade. Als Regierungen hat es bereits das gesamte politische Spektrum [Mexikos] – mit seinen jeweiligen Partei-Fahnen und Abkürzungen von Parteinamen gegeben – aber der Beruf der »SUCHERIN« wächst weiter an.
Vor Jahren gab es in den Behörden-Formularen eine Zeile, wo »Beruf« stand. Normalerweise trugen die Frauen dort so was ein wie: »Hausfrau« oder »Büroangestellte«, »Hausangestellte« oder »Akademikerin«, »Studentin«.
Die Monströsität eines Systems hat einen neuen Beruf geschaffen: den der »Sucherin«. Möglicherweise den schrecklichsten, beklemmendsten, schmerzvollsten und anachronistischsten aller Berufe.
Weniges zeigt derart das Scheitern eines politischen Vorschlags innerhalb der Macht auf – wie die Existenz und das Anwachsen des Berufs der »Sucherin«.
Stellt Euch vor, dass Irgendeine*r diese Frauen interviewt: »Guten Tag. Und was arbeiten sie so?«
Eine gibt zur Antwort: »Suchen.« »Und wieviel verdienen Sie mit dieser Arbeit?« »Nichts.« »Ja, aber wir machen Sie es dann?«»Ich weiß nicht, ich weiß jedoch, dass ich sie machen muss. Ich muss es machen, weil sie/er weiß, dass ich keine Ruhe geben werde, bis ich sie/ihn gefunden habe.« »Möchten sie Anderen etwas sagen?« »Ja, schauen Sie mich an, denn so werden Sie sein in der Zukunft – wenn wir jetzt nichts tun.« Die Reporterin fängt an zu weinen. Sie tut es immer noch. Und diese Frauen? Nun, sie suchen weiter.
Indessen schreibt jemand in den Bergen des Südosten Mexikos:
»An die Sucherinnen:
Wir hatten an ein Treffen mit Euch gedacht, welches nicht eines des Schmerzes sondern der Freude sein sollte. Ihr wisst schon: mit Tanzen, Liedern, Gedichten, Filmen, Theaterstücken, Kinderzeichnungen, so etwas in der Art. Nicht etwas jedoch, was Euch diese nicht-schließbare Wunde lindert oder heilt, sondern eine Feierlichkeit, welche Euer Kampf verdient.
Aber ein unheilvolles Wesen, von denen es ja nie fehlt, wollte dieses Treffen zu einer Wahlbühne für die falsch benannte Opposition machen: Aufrufen zu einem »kritischen Votum« für Bertha und solche Blödsinnigkeiten, welche nur dazu dienen, dass ein*e Opportunist*in sich einen Posten angelt. Deshalb haben wir dieses Treffen nicht umgesetzt … noch nicht. Wir wollten nicht zulassen, dass Eure ehrenwerte Hartnäckigkeit beschmutzt wird.
Jedoch sagen wir Euch hier, was wir Euch dort sagen wollten: »Hört nicht auf zu suchen. Diese fehlenden Menschen sind es wert, durch das, was sie durch/von Euch erhalten haben: Euer Blut. Wir kennen nicht diejenigen, die Ihr vermisst und die Euch fehlen, aber wir kennen Euch und Euren ehrenwerten Kampf. Gebt nicht auf, verkauft Euch nicht, lasst nicht nach. Auch wennder Horror, dem Ihr die Stirn bietet, nicht in Mode ist: Euer Kampf ist gerecht und nobel. Kein Politiker könnte dasselbe sagen. Eure hartnäckige Würde lehrt und zeigt den Weg. Hoffentlich schauen Euch noch andere so an wie wir, die zapatistischen Pueblos: mit Bewunderung und Respekt.«
PS. In Gaza: Die ermordeten palästinensischen Kinder sind keine kollateralen Opfer; sie sind das hauptsächliche Ziel von Netanyahu, immer war es das. Dieser Krieg ist nicht dazu da, Hamas zu eliminieren. Er dient dazu, die Zukunft zu zerstören. Hamas wird lediglich das kollaterale Opfer sein. Die Regierung Israels hat bereits die Medien-Schlacht verloren, denn es stellt sich heraus: Der Genozid, auch wenn er als Rache getarnt ist, hat nicht so viele Anhänger hat, wie sie glaubten. Jetzt ist dieser Krieg zu unvorstellbarster Grausamkeit fähig. Wer dieses Massaker vielleicht stoppen könnte, ist … der Pueblo Israels.
Nun gut. Salud – und dass der*diejenige findet, der*die sucht.
Aus den Bergen des Südosten Mexikos.
Der Capitán.
November 2023.
40, 30, 20, 10 Jahre danach.
übersetzt von lisa-colectivo malintzín.
Quelle: https://enlacezapatista.ezln.org.mx/2023/11/09/sexta-parte-posdata-que-busca-esperando-encontrar/
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