Achter Teil: Noch einen Tag später
Puh! Das mit den Vorstellungen haben Sie ja nun schon hinter sich gebracht.
Nun bereiten Sie sich darauf vor, zu der Arbeit aufzubrechen, die ihnen zugewiesen wurde. Sie müssen zum Gemüsegarten / zum Maisfeld / zur Autowerkstatt / zum Holzlager / zur Küche / zum Speiseraum / zum zukünftigen Auditorium / zur Gemeinschaftsschule / usw. / usw. / habe ich schon usw. gesagt ?
Sie bereiten sich im Geiste darauf vor, atmen ein und atmen aus (auch wenn es sich eher so anhört, als würden Sie seufzen). Sie wollen gerade fragen, wo verdammt noch mal Sie eigentlich hinmüssen, als ein junges Mädchen (nach Ihrer Schätzung zwischen 19 und 20 Jahre alt) auf Sie zukommt und Sie begrüßt.
Lächelnd stellt sie sich vor: „Ich heiße Defensa, ‚Verteidigung‘, und mit Nachnamen Zapatista, und wie heißt du?“ Sie zögern erst, bevor Sie Ihren Namen nennen, und bedauern, dass Sie nicht auch einen so vielsagenden Namen für sich wählen konnten.
Sie lächelt weiter und sagt: „Ich begleite dich zu dem Ort, wo du hin musst. Ich werde aufpassen, dass dir nichts Schlimmes passiert.“
Sie sind verunsichert: „Nichts Schlimmes? Was denn zum Beispiel?“
Darauf das Mädchen: „Naja, manchmal gibt es Holzböcke, Zecken, Schlangen, Skorpione oder Spinnen. Neulich wurde der Capitán von einer Spinne gebissen, die Fiedler genannt wird. Also die Spinne, nicht der Capitán. Der spielt nichts dergleichen.”
Sie müssen schlucken. Das Mädchen nimmt Ihre Hand und Sie machen sich auf den Weg: „Ich werde dir zeigen, was deine Aufgabe ist, und auf dich aufpassen.“ Sie fährt fort: „Wir kennen deinen Wert und müssen auf dich aufpassen. In der Gemeinde haben wir schon vor alldem, was nun passiert ist, gewusst und verstanden, dass Menschen wie du für morgen wichtig sind.“
Sie haben das Gefühl, als würde Ihr Herz mit Zucker überzogen, und außerdem scheint Ihnen etwas ins Auge geflogen zu sein, aber Sie versuchen dennoch, gleichmütig zu bleiben. Wie Ihre Beschützerin immer sagt: „Von wegen nichts, Widerstand und Rebellion.“
Während Sie durch eine Lichtung laufen, hören Sie das Geräusch aufgeregter Vögel. Natürlich denken Sie sofort, dass es sich um eine Meute von Schlangen, Skorpionen und Spinnen handeln muss. Wie angewurzelt bleiben Sie stehen. Das junge Mädchen lacht und erklärt Ihnen:
„Das ist ein Vogel, den wir ‚Juanchío‘ nennen, weil er so macht, wenn er singt: juanchío, juanchío‘. Das bedeutet, dass sein Herz zufrieden ist. Schau ihn dir an, er ist schwarz. Wir lieben und schützen diesen Vogel, weil er fast immer in einer Gemeinschaft unterwegs ist. Also mit anderen. Und wenn er eine Gefahr erkennt, warnt er. Dann macht er ‚piep piep piep’. Aber weil es viele sind, machen sie richtig viel Lärm. Und immer lauter und es kommen immer mehr dazu, und mit ihrem Lärm zeigen sie dir, wo genau die Bedrohung ist, sei es eine Schlange oder eine Raubkatze. Das heißt, er zeigt dir genau, wo das Böse ist.“
Sie müssen wieder schlucken und fragen: „Eine Raubkatze?“
„Ja”, antwortet das Mädchen, „ich glaube, ihr nennt sie Ozelot. Sie ist kleiner als der Puma.“
„P… P… Puma?“, stottern Sie und verfluchen innerlich das System, den Sturm und den Tag danach.
Sie fährt fort: „Er warnt auch die kleineren Tiere, wenn ein Sperber oder Adler oder eine Schlange unterwegs ist. Gemeinsam wechseln sie sich ab und picken den Bösewicht, damit die Kleinen Zeit haben, sich in Sicherheit zu bringen.“
Ihre Haut hat mittlerweile eine weißlich-bleiche Farbe angenommen, als Sie fragen: „Und jetzt? Ist es eine Schlange oder ein Ozelot oder ein Puma?“
„Nichts von alldem”, antwortet sie und lacht. „Das ist nur die Liebe. Zwei von ihnen verlieben sich gerade, das Männchen und das Weibchen, und dabei machen sie viel Lärm und schweben geradezu durch die Lüfte, um zu zeigen, was für tolle Liebhaber:innen sie sind.“
Scheinbar zittern Sie noch immer, denn das Mädchen erklärt: „Keine Sorge, sie streiten und schimpfen auch miteinander. Sie haben sich nunmal lieb.“
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Später im Speiseraum setzen sich instinktiv all jene zusammen, deren Fluch – und jetzt Segen – die Künste und Wissenschaften waren. Und alle beginnen zu erzählen, wie es ihnen an ihrem ersten Tag als Teil des Ganzen, das hier „Gemeinde“ genannt wird, ergangen ist.
Als Sie an der Reihe sind und mit dem Namen ihrer Beschützerin beginnen, erinnert sich eine andere Person, dass die ihre „Esperanza Zapatista“ heißt, „Zapatistische Hoffnung“. Und fügt hinzu: „… und Hoffnung ist in Zeiten wie diesen immer willkommen.“
Eine Person von den angewandten Wissenschaften unterbricht: „Ihr hattet Glück. Meine Beschützerin hat sich mit dem alles andere als beruhigenden Namen ‚La Calamidad Zapatista‘, ‚die zapatistische Katastrophe‘, vorgestellt. Ich weiß nicht, aber das beunruhigt mich. Ich habe so eine Vorahnung, dass etwas Schlimmes passieren könnte.“
Gelächter hallt durch den ramponierten Schuppen, der als Speiseraum dient und an dessen Eingang zu seiner Benennung ein Schild angebracht ist, auf dem steht: „Wenigstens beim Essen keinen Schritt zurück! (Überleg dir das beim Baden aber lieber gut).”
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P.S. ZUR UNTERBRECHUNG, IN DEM DER CAPITÁN ERKLÄRT, DASS ES STIMMT, ABER AUCH NICHT (der mysteriöse Fall der verschwundenen Fiedel). – Ja, mich hat eine dieser Spinnen gebissen, die hier ‚Fiedlerspinne‘ genannt werden. Ich tat, was jeder gebildete, gut informierte Hetero-Mann tun würde. Das heißt, ich nahm eine dieser kleinen Elektroschocker-Boxen (die es früher auf den Plätzen, auf Dorffesten, auf der Kirmes und in Kneipen gab – und von denen ich nicht weiß, ob es sie noch gibt) und verabreichte mir selbst einen starken elektrischen Schlag. 120 Volt, stärker als der stärkste schwarze Kaffee.
Ich wartete geduldig, aber nichts passierte. Meine legendäre, durch jahrzehntelange bewusste Übung gestählte Ungeschicklichkeit blieb bestehen. Ich versuchte, die Wände hochzuklettern, aber die kleinen Hunde blickten mich nur an und versuchten, die Bewegungen nachzuahmen, weil sie das Ganze wohl für einen TikTok-Modetanz hielten. Fazit: Ich habe mich nicht verwandelt. Ich werde wohl ein Superheld ohne Superkräfte bleiben müssen. Die Spinne ist allerdings an ihrer Vergiftung gestorben. Häh? Sollte ich mir etwa Sorgen machen? Wahrscheinlich waren es nicht genügend Volt … Und die Moral von der Geschicht: Glaube Peter Parker nicht. Wenn ihr eine Spinne seht, keine Panik. Rennt einfach um euer Leben.
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Kurz darauf kam jemand und stellt sich als „Oberster Chef für Gesundheitsvorsorge, Impfungen, Händewaschen, Obduktionen und Sonstiges, Totenscheine usw.“ vor. Muss ich erwähnen, dass dieses Individuum einem Käfer außerordentlich ähnlich sah?
Er betrat die Hütte, blickte sich rasch im Raum um und sagte: „Ich möchte das Opfer sehen“. Obwohl der Aspekt des „Chef usw.“ mein Misstrauen weckte, zog ich mein T-Shirt hoch und wartete, dass er sein Baumanometer anlegte. Er aber sagte nur: „Nicht Sie. Ich sagte, das Opfer, also die Spinne.” Verwundert zeigte ich auf die Ecke, in der der Kadaver der nunmehrigen Märtyrerin lag. Der Käfer in seinem Arztkittel trat näher und untersuchte sie eingehend. Als er damit fertig war, erklärte er: „Kein Zweifel, sie ist an einer Überdosis Nikotin gestorben.“ Dann fragte er neugierig: „Rauchen Sie viel?“ Ich antwortete: „Manchmal, ein bisschen, also ganz selten, obwohl eigentlich ja, ein bisschen ziemlich viel.“ „Aha“, sagte der Gerichtsmediziner. „Ich fürchte, mein großnasiger Freund, dass Sie ein Verbrechen begangen haben. Zwei Verbrechen, um es genau zu sagen.“ „Ich? Warum? Sie hat angefangen, weil sie mich ohne jede Vorwarnung gebissen hat.“ Das Wesen zog woher auch immer ein kleines Notizbuch hervor und redete beim Schreiben weiter: „Mord durch Transfusion in perversem Ausmaß. Oje, das ist schwerwiegend, Sie stecken in Schwierigkeiten.“ Ich versuchte zu protestieren: „Aber Durito …“ Er: „Nichts mit Durito, Sie müssen mich mit ‚Euer Eminenz‘ anreden, und das andere Verbrechen ist … mmh … mmh … Diebstahl eines Musikinstruments!“ Jetzt war ich fassungslos: „Aber ich habe nichts gestohlen!“ Darauf der Staatsanwalt mit den Gliederfüßen: „Ist das nicht eine Fiedlerspinne?“ „Ja, so wird sie genannt“, stammelte ich. „Also, wo ist ihre Fiedel?“
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Ich habe die Fiedel überall gesucht, aber nichts. Ich dachte schon, dass ich vielleicht einen Anwalt benötigen würde, als das gleiche Wesen noch einmal auftauchte, diesmal aber mit Talar und Barett. Feierlichen Schritts tritt er ein und überreicht mir eine Karte, auf der steht: „Kanzlei ‚Hart aber hartnäckig‘, Präsident, Hauptaktionär und einziges Mitglied: Don Durito, Staatsanwalt, Richter, Anwalt und Henker für die verlorenen Fälle. Mit einer digitalen Anwendung kommen wir auch zu Ihnen nach Hause – der Premium-Service umfasst Rabatte für den Aufenthalt in ‚El infierno de todos tan temido‘. [Anm. d. Übers.: mexikanischer Film von 1979] Moderate Preise. Nur Euro, kanadische Dollar und Yuan.“
Ich glaube, ich bin verloren … schickt Tabak, Leute! Damit was da ist, hört ihr.
Moral 2. – Raucht nicht. Ihr gefährdet nicht nur eure Gesundheit, sondern ihr riskiert eure Freiheit.
Vom Dach meiner Hütte aus, in Vorbereitung meines besten Sprungs ins Leere.
El Capitán.
November 2024
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