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Interview – Die zapatistische „Reise für das Leben“

Aufbruch in eine Welt, in der viele Welten Platz haben

Am 1. Januar 2021 veröffentlichte das Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN), die Zapatistische Armee zur nationalen Befreiung, eine „Erklärung für das Leben“. Damit läuteten sie ein Jahr ein, das für die Zapatistische Bewegung und Idee in besonderer Weise im Zeichen des Widerstands steht – gegen die Kolonisierung und „für das Leben“. Wir haben in den letzten Wochen mit den Soziologinnen Franziska und Katharina hin- und hergeschrieben und sie gefragt, was es mit der Reise auf sich hat.  

1. Wer sind die Zapatistas und was macht 2021 zu einem für sie so besonderen Jahr, dass sie genau eine „Reise für das Leben“ antreten?

Die zapatistische Bewegung ist nach Emiliano Zapata (1879–1919) benannt, einer der zentralen Figuren in der mexikanischen Revolution (ca. 1910–1920). Vor allem die indigene und ländliche Bevölkerung schloss sich Zapatas Kampf für Tierra y Libertad, „Land und Freiheit“, an. Dieser richtete sich gegen die zunehmende Verarmung und Marginalisierung weiter Teile der mexikanischen Gesellschaft, insbesondere der Landbevölkerung, die mit der Konzentration politischer und wirtschaftlicher Macht in den Händen der herrschenden Klasse einherging. Zapatas Motto prägt bis heute den Widerstand der zapatistischen Bewegung gegen den mexikanischen Staat. Der Kampf um Anerkennung indigener Autonomie ist darüber hinaus mit einer zunehmend ausdifferenzierten antipatriarchalen, kapitalismuskritischen und ökologischen Agenda verknüpft (1). Die heutige, mehrheitlich indigene, zapatistische Bewegung formierte sich mit der Gründung der Guerilla EZLN im Jahr 1983. Öffentlich in Erscheinung traten die Zapatistas erstmals am 01. Januar 1994, als sie sieben Städte im ressourcenreichsten und zugleich wirtschaftlich ärmsten Bundesstaat Chiapas im Süden Mexikos besetzten und anschließend in einem zwei-wöchigen bewaffneten Kampf verteidigten. Anlass war das Inkrafttreten des Freihandelsabkommens NAFTA zwischen Mexiko, den USA und Kanada, welches kommunal verwaltetes Gemeindeland reprivatisieren sollte und damit eine der wichtigsten Errungenschaften der mexikanischen Revolution, das sogenannte Ejido System, rückgängig machen sollte. Da letzteres für mexikanische Kleinbäuer*innen und indigene Praktiken der communidad von zentraler Bedeutung ist, wurde diese Entwicklung auch als Angriff auf indigenes Leben verstanden. Unter dem Motto ¡Ya Basta!, „Es reicht!“, lehnen sich die Zapatistas gegen die neoliberale Politik der Privatisierung und Deregulierung auf, der sie die Forderung nach allgemeinem Zugang zu „Land, Brot, Demokratie, Würde, Freiheit, Bildung, Gesundheit“ (1) entgegensetzen. 

Die diesjährige „Reise für das Leben“ greift das in ihrem ersten Kommuniqué formulierte Motto der zapatistischen Bewegung auf: „Wir sind das Ergebnis von 500 Jahren Kampf“. Denn es war im Jahr 1521 als der spanische Konquistador Hernán Cortés das Gebiet des heutigen Mexiko eroberte und verkündete, die Indigenas seien besiegt. Dieses Jahr – 500 Jahre später – unterstreichen die Zapatistas mit ihrer Reise nach Europa das Gegenteil. Dabei geht ihre „Reise für das Leben“ nicht nur geographisch in die entgegengesetzte Richtung, auch ihr politisches Ziel ist um Welten entfernt von dem der brutalen Konquistadoren des europäischen, imperialistischen Kolonialismus. Die Zapatistas kommen nicht als Unterdrückte, um ihre Unterdrücker zu finden und zu konfrontieren, sondern als Aufständische, um andere Aufständische zu finden und einander die Hände zu reichen (3). Dabei geht es darum, Allianzen zu schmieden im Kampf für eine lebenswerte Zukunft. 

2. Was ist das Besondere am zapatistischen Politikverständnis und wie beeinflusst dieses ihre Praxis? 

Um die politische Praxis der zapatistischen Bewegung einordnen und Allianzen in ihrem Sinne schmieden zu können, ist ein Verständnis für das zapatistische Selbstverständnis essenziell. Subcommandante Marcos brachte es in der Einladung zum „1. Intergalaktischen Treffen für die Menschheit und gegen den Neoliberalismus“ im Jahr 1996 wie folgt auf den Punkt: „Der Zapatismus existiert nicht“. Das bedeutet, dass dieser nicht als Ideologie zu verstehen ist, die klare Antworten auf politische Fragen bereithält. Vielmehr ist der Zapatismus eine politische Bewegung im wahrsten Sinne des Wortes: Es geht darum, Bewegung in das politische Geschehen zu bringen und es als lebendigen Prozess des Lernens neu zu konzipieren. Die Schwierigkeit, „den Zapatismus“ umfassend und letztgültig zu beschreiben, sehen wir als eine Stärke, die sich auch in zapatistischen Formen des Widerstands ausdrückt. Was wir als prägend wahrnehmen und was auch in den Selbstbeschreibungen des Zapatismus eine zentrale Rolle spielt, ist das Ziel, Differenzen weder einzuebnen noch im Sinne eines friedlichen Nebeneinanders lediglich zu tolerieren. Denn die Vereinheitlichung der Heterogenität von Lebensformen, Wissenspraktiken und Ethiken ist ebenso ein Aspekt des Kolonialismus wie die Unterwerfung und Ausbeutung von Ländereien und Menschen. Das zapatistische Motto „El mundo que queremos es uno donde quepan muchos mundos“, („Die Welt, die wir wollen, ist eine, in der viele Welten Platz haben“) sehen wir als Ausdruck einer dekolonialen Praxis, da sich dieses Verständnis gegen Verallgemeinerungen wendet, die Grundlage kolonialer und imperialistischer Kontinuitäten sind. Die Praxis einer Welt, in der viele Welten Platz haben, bricht mit einem alles einander angleichenden Eine-Welt-Narrativ. Sie ist auch ein Bruch mit einer viel zu schnellen und vermeintlich reibungslos funktionierenden Welt.  Genau in diese Kerbe schlagen auch die Zapatistas mit ihrem Politikverständnis: preguntando caminamos, („fragend schreiten wir voran“). In einer globalisierten und neoliberal geprägten Welt der Effizienz, ist das Fragen und Hinterfragen an sich bereits eine politische Intervention.

Politik findet dort statt, wo ein Problem menschliche und mehr-als-menschliche Akteure um sich versammelt. Dieses Verständnis von Politik als einem langsamen und um das Fragen herum organisierten Prozess ist charakteristisch sowohl für das zapatistische Projekt allgemein als auch für ihre „Reise für das Leben“. Die Reise zielt auf die Versammlung von Welten, das heißt auf die Schaffung von Allianzen, wechselseitige Lernprozesse und darauf, Irritationen politisch produktiv zu machen. Darin spiegelt sich auch die Art und Weise wider, wie die politische Praxis in Chiapas organisiert ist. Diese ist geprägt durch Dezentralisierung und Basisdemokratie: Die autonomen municipios, in die das besetzte Gebiet in Chiapas unterteilt ist, organisieren sich überregional in 5 Zentren, die auch caracoles, „Schneckenhäuser“ genannt werden. Diese Metapher finden wir besonders eindrücklich, weil sie die Langsamkeit, Prozessualität und zirkuläre Unabgeschlossenheit einer dekolonialen Praxis verbildlicht. 

3. Welchen Stellenwert hat der Feminismus in der zapatistischen Bewegung und was könnt ihr uns darüber erzählen?

Ein Meilenstein des Aufstands der zapatistischen Frauen ist die Verabschiedung des Revolutionären Frauengesetzes am 8. März 1993. Darin verankert sind grundlegende Rechte, die Frauen einerseits die gleichberechtigte Teilnahme am revolutionären Kampf, an politischen Versammlungen sowie die Bekleidung öffentlicher Ämter zusichern, andererseits das Recht auf Arbeit, Bildung, Gesundheit und körperliche Selbstbestimmung, freie Partnerwahl und Familienplanung. Im Jahr 1996 wurden dem Gesetz 11 weitere Punkte hinzugefügt, unter anderem ein generelles Verbot von Alkohol und Drogen, deren Gebrauch mit der Verbreitung geschlechtsbasierter, unter anderem partnerschaftlicher Gewalt in Zusammenhang gebracht wurde.

Das Revolutionäre Frauengesetz ist als Antwort auf eine „dreifache Unterdrückung“ der zapatistischen Frauen zu verstehen, wie es Comandanta Ester 2001 bei einer Rede in Mexiko-Stadt formulierte. Damit beschreibt sie die intersektionale – d.h. verschränkte und sich wechselseitig verstärkende – Unterdrückung als Frauen, Indigene und Arme (4). Charakteristisch für die Intersektionalität dieser Unterdrückung zapatistischer Frauen ist, dass sie sich auch innerhalb der indigenen Gemeinschaften abspielte, vor allem in der Zeit vor 1994. Vor dem Aufstand war der Alltag vieler Frauen* (d.h. von Frauen und weiblich sozialisierten oder gelesenen Personen sowie anderer unterdrückter Geschlechter) Selbstzeugnissen zufolge von Ausbeutung und Misshandlung geprägt, weil „die verfluchten Patrones uns behandelten, als wären wir ihr Besitz“ (5).

Während die Gewaltherrschaft der Großgrundbesitzer durch die Gründung autonomer Gemeinden abgelöst wurde, war damit keinesfalls die Befreiung der Frauen beschlossen: „Da die Männer mit dem Patrón verkehrt hatten, schienen auch sie angefüllt mit schlechten Ideen und wendeten diese innerhalb des Hauses an – der Mann wurde zum kleinen Patrón, zum Patroncito des Hauses“ (5). 1994 wird als Moment des „Aufwachens“ der Frauen beschrieben, der von der Erkenntnis geprägt gewesen sei, dass Politik und Selbstorganisation nicht allein Männersache sein könne: „[U]m eine Revolution zu machen, die nicht nur von Männern getragen wird, muss eine unter Männern und Frauen gemacht werden.“ (7)

Mag diese, in den Selbstbeschreibungen zapatistischer Frauen* dargestellte „Revolution“ aus westlicher Perspektive durchaus recht bescheiden klingen – es geht vor allem um Partizipation und die Anerkennung feminisierter Arbeit – ist deren lebensweltliche Einordnung für das Verständnis der emanzipatorischen Prozesse des und innerhalb des Zapatismus entscheidend: Wir haben es hier mit kleinbäuerlichen, sehr stark familiär organisierten Gemeinschaften innerhalb einer von machismo geprägten Gesellschaft zu tun. Im Sinne der Forderung nach einer Anerkennung vieler Welten innerhalb der Welt gilt demnach auch bei einer Einordnung der Kämpfe der zapatistischen Frauen*, diese nicht aus einer westlich-kolonialistischen Perspektive entlang einer linearen Achse der Entwicklung zu beurteilen, sondern lokal eingebettet und in Bezug auf deren eigene Zeitlichkeit. 

Der Aufstand der zapatistischen Frauen innerhalb des allgemeineren zapatistischen Aufstands lässt einige unübersehbare emanzipatorische Fortschritte erkennen. So sind heute etwa alle öffentlichen Ämter paritätisch besetzt; 2018 stellten die Zapatistas eine Compañera als Kandidatin für die mexikanische Präsidentschaftswahl auf – nicht so sehr, um tatsächlich eine Präsidentin zu stellen, sondern vielmehr um die anhaltende Unterdrückung und den ebenso anhaltenden Kampf dagegen und für die Gleichberechtigung indigener Frauen* und Gemeinschaften ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Nach einem ersten „Treffen der zapatistischen Frauen mit den Frauen der Welt“ in Chiapas 2007, fand 2018 ein erstes „Internationales Treffen der Frauen, die kämpfen“ statt. Diese Treffen, bei denen aufständische Frauen* aus aller Welt als „Unterschiedliche und Gleiche“ zusammenkommen, wie es das Kommuniqué zum 8. März 2018 formuliert, dienen der Vernetzung und Vereinigung im Kampf gegen Unterdrückung, Gewalt und Tod – anders gesagt „für das Leben“.

Auch hier wird ein zentrales Prinzip des zapatistischen Politik- und Revolutionsverständnisses sichtbar: nämlich, dass der Kampf niemals abgeschlossen, sondern vielmehr als anhaltender transformatorischer Prozess zu verstehen ist. Im Rahmen der „Reise für das Leben“ wurden die queer-feministischen Ansprüche der Zapatistas übrigens symbolisch dadurch unterstrichen, dass als erstes eine Transperson europäischen Boden betrat und Europa neu benannte: „Im Namen der zapatistischen Frauen, Kinder, Männer, Alten – und natürlich Andersgeschlechtlichen erkläre ich, dass der Name dessen, was heute als Europa bekannt ist fortan S‘LUMIL K‘AJXEMK‘OP sein wird. Das bedeutet nichtunterworfenes Land oder Land, welches sich nicht beugt. Und so wird es für Einheimische und Fremde bekannt sein, solange es hier Menschen gibt, die sich nicht ergeben und nicht verkaufen.“ (Marijosé, 22.6.2021, Vigo, Galicia).

4. Das Politikverständnis und die Praxis der (radikalen) Linken in Deutschland unterscheiden sich in vielen Punkten von dem der zapatistischen Bewegung. Wo seht ihr Hindernisse, wo Potentiale, und wo braucht es vielleicht noch „Übersetzungsarbeit“ in Bezug auf die „Reise für das Leben“?

Uns scheint die Rezeption zapatistischer Politik und ihrer Form kritischen Denkens häufig entweder zu einer Romantisierung oder zu einer Banalisierung zu tendieren. (Das gilt im Übrigen auch für die Diskussion indigener Gemeinschaften und deren Politik allgemeiner.) Auf der einen Seite wird das Politikmodell teilweise unkritisch überhöht, auf der anderen Seite werden Aspekte als so „unrealistisch“, problematisch, oder lokal spezifisch erachtet, dass gar keine kritische Auseinandersetzung stattfindet. Die „Reise für das Leben“ und auch der Politikstil des Fragens und Verlangsamens, die wir als Form der Kosmopolitik verstehen würden, laden aber gerade zu einer kritischen gegenseitigen Befragung ein, die anerkennt, dass Übersetzungen immer notwendig und notwendig verzerrend sind. Es ist eben nicht die eine Welt, die es zu schaffen oder zu verbessern gilt, sondern es geht wirklich darum, Welten (im Plural) herzustellen. Und diese wiederum stehen nicht einfach nebeneinander, sondern berühren sich, überschneiden sich, teilweise liegen sie im Clinch miteinander. Die „Reise für das Leben“ soll gerade solche Begegnungen ermöglichen, in denen beide Seiten nicht unverändert bleiben. Wir finden es wichtig das mitzubedenken. 

Ein Beispiel dafür, an welchen Stellen, solche Übersetzungsarbeiten nötig und wichtig sind, ist für uns der Lebensbegriff, der ja in der Aktion jetzt im Zentrum steht. Im deutschsprachigen und westlichen Kontext genereller ist dieser stark biologisch-medizinisch verengt worden. Biopolitische Zugriffe auf das „Leben selbst“ werden von kritischen Theorien problematisiert und darauf hingewiesen, dass „Leben“ historisch immer wieder auch als (mörderisch-)exkludierender Begriff gewirkt hat und biologistisch verengt instrumentalisiert wurde. In vielen lateinamerikanischen Kontexten liegt dem Begriff ein viel breiteres Verständnis zugrunde. Das Prinzip des buen vivir, das in der Ecuadorianischen Verfassung sogar als Staatsziel festgehalten ist, ist eine plurale Kategorie mit regional sehr unterschiedlichen Ausprägungen. „Gut leben“ zielt hier nicht so sehr auf eine abgeschlossene Moral, die Regeln des guten Lebens definiert, sondern darauf, Lebensbedingungen umfassend in den Blick zu nehmen. Es geht um ein gutes, auch speziesübergreifendes Zusammenleben, das von wechselseitigen Sorgebeziehungen geprägt ist (auch gegenüber nicht-menschlichen Akteuren, dem Boden, den Tieren, den Pflanzen). Darin unterscheidet sich das Verständnis deutlich von „Leben“ als Überleben oder der biologischen Substanz einzelner Körper – es wird interdependenter verstanden und eben als Prozess, der dauerhaft zu gestalten ist. Deutlich wird hier auch, dass die Politik des Lebens der Zapatistas nicht mit einem Erlösungsversprechen aufwartet, sondern Dissens kultivieren und Begegnungen als politische Prozesse anstoßen möchte. 

5. Was können soziale Bewegungen hierzulande vom Zapatismus lernen, beispielsweise die Klimagerechtigkeitsbewegung? 

Ein wichtiger Grundstein der zapatistischen Bewegung und Politik, der unseres Erachtens bedeutsam für politische Bewegungen überall ist, ist die Ethik der Offenheit gegenüber anderen Welten. Voraussetzung dafür ist natürlich die in der westlichen Kosmologie erst einmal schwierig erscheinende Abkehr von einem singulären Verständnis der Welt hin zu deren Pluralisierung.

Das heißt, die Welt nicht länger als einen naturgegebenen Kosmos zu verstehen, auf dem sich verschiedene Kulturen ausdifferenzieren, sondern – wie bereits zitiert – als eine Welt der vielen, gleichzeitig existierenden Welten. In einem kürzlich erschienenen Buch zu Formen pluriversaler Politik (im Gegensatz zu universal(istisch)er Politik) illustriert der kolumbianisch-amerikanische Anthropologe Arturo Escobar verschiedene soziale Bewegungen im Kontext indigener Lebenswelten, zu denen auch die Zapatistas gehören. Diese hätten gezeigt, dass die Annahme einer singulären Welt mit einer singulären Wahrheit ein Vermächtnis des Kolonialismus und eine der Grundlagen neoliberaler Globalisierung ist (8). Auch linke Bewegungen sind leider nicht davor gefeit, in die „globalozentrische Falle“ (9) zu tappen. Und genau hier sehen wir eine wichtige Lehre, die wir – gerade als Linke in Europa, die politisch ebenso wie epistemisch im Kolonialismus verwurzelt ist – von der zapatistischen Bewegung lernen können: weg von universalistischen Antworten auf lokal unterschiedlich ausgeprägte Probleme zu kommen, lokales Wissen wertschätzen und einbeziehen zu lernen.

Klimagerechtigkeit ist da ein wunderbares Stichwort, da es – anders als etwa Klimaschutz – auf die untrennbare Verwobenheit von ökologischen (Klima) mit sozialen (Gerechtigkeit) Fragen verweist. Der anthropogene Klimawandel lässt sich überhaupt nicht losgelöst von der Geschichte des heteropatriarchalen, kapitalistischen, modernistisch/kolonialen Weltsystems denken – eine schöne Formulierung aus der zeitgenössischen lateinamerikanischen kritischen Theorie. Vielmehr wiederholt er die koloniale Verdrängungserfahrung indigener Gemeinschaften, denen nach geographischen und psycho-sozialen nun auch klimatisch-geologische Umweltveränderungen aufgezwungen werden, die erneut ihre Lebensbedingungen und Lebenswelten zerstören. Der indigene Philosoph Kyle Powys Whyte hat z.B. eine Reihe aufschlussreicher Arbeiten vorgelegt, in denen er (z.T. mit anderen indigenen Autor*innen) diese Zusammenhänge diskutiert und argumentiert, dass Klimagerechtigkeit folglich immer und notwendig auch Dekolonisierung bedeutet. Entscheidend ist dabei – was wiederum die Brücke zurück zur Universalismuskritik schlägt – Dekolonisierung als multimodales Projekt zu verstehen, das sich politisch, aber auch epistemisch artikuliert1 (10). Das bedeutet, dass in einer Welt, in der viele Welten Platz haben, auch unterschiedliche, immer lokal situierte und damit partielle Wissen Platz haben. Gemeinsam eine Welt der vielen Welten zu bauen, bedeutet dann, einander zuzuhören, voneinander zu lernen, dabei Differenzen nicht aufzulösen zu versuchen, sondern zu respektieren und in ein solidarisches Verhältnis zueinander zu setzen.

Referenzen

Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Themen, schaut gerne in die Referenzliste mit der Literatur auf die sich Katharina Hoppe und Franziska von Verschuer beziehen.

(1) Kastner, Jens (2021b): „Revolutionäre Integrationsarbeit: Eine Delegation der Zapatistischen Bewegung aus Mexiko bereist Europa“, Texte zur Kunst, 09.06.2021. URL: https://www.textezurkunst.de/articles/jens-kastner-revolutionare-integrationsarbeit-eine-delegation-der-zapatistischen-bewegung-aus-mexiko-bereist-europa/ [letzter Zugriff: 02.07.2021].

(2) Kastner, Jens (2021a): „Zur Europa-Reise der Zapatistas: ‚Wir sind das Ergebnis von 500 Jahren Kampf‘“, 09.04.2021. URL: http://www.chiapas.at/beitraege/500_jahre_kampf.htm [letzter Zugriff: 02.07.2021].

(3) Holloway, John (2021): “The Zapatistas’ surreal struggle for life – and against capitalism”, ROAR Magazine, 20.05.2021. URL: https://roarmag.org/essays/zapatista-journey-for-life/ [letzter Zugriff: 02.07.2021].

(4) Klein, Hilary (2015): Compañeras: Zapatista Women’s Stories. New York: Seven Stories Press.

(5) EZLN (2016): Das kritische Denken angesichts der kapitalistischen Hydra: Beiträge von EZLN-Aktivist*innen zu Theorie und Praxis der zapatistischen Bewegung. Münster: Unrast Verlag. S. 92.

(6) EZLN (2016): Das kritische Denken angesichts der kapitalistischen Hydra: Beiträge von EZLN-Aktivist*innen zu Theorie und Praxis der zapatistischen Bewegung. Münster: Unrast Verlag. S. 95.

(7) EZLN (2016): Das kritische Denken angesichts der kapitalistischen Hydra: Beiträge von EZLN-Aktivist*innen zu Theorie und Praxis der zapatistischen Bewegung. Münster: Unrast Verlag. S. 99.

(8) Escobar, Arturo (2020): Pluriversal Politics. The Real and the Possible. Durham and London: Duke University Press. S. 15.

(9) Escobar, Arturo (2020): Pluriversal Politics. The Real and the Possible. Durham and London: Duke University Press.

(10) Mignolo, Walter D. (2011): “The Zapatista’s Theoretical Revolution: Its Historical, Ethical, and Political Consequences”, in The Darker Side of Western Modernity: Global Futures, Decolonial Options. Durham/London: Duke University Press, S. 213–251.

Weitere Bezugnahmen der Autorinnen

EZLN (2018): „Worte im Namen der zapatistischen Frauen zur Eröffnung des Ersten Internationalen, Politischen, Künstlerischen, Sportlichen und Kulturellen Treffens der Frauen die kämpfen“, Chiapas 98: News-Portal und E-Mail-Liste zur Menschenrechtssituation in Mexiko, 08.03.2018. URL: https://www.chiapas.eu/news.php?id=9735 [letzter Zugriff: 12.07.2021].

EZLN (2021): „Eine Erklärung … für das Leben“, Ya Basta Netz: Netzwerk für Solidarität und Rebellion, 01.01.2021. URL: https://www.ya-basta-netz.org/europa-von-unten-und-ezln-zapatistas-reise/ [letzter Zugriff: 12.07.2021].

Siller, Nikola & Edo Schmidt (o.D.): “Preguntando caminamos. Über das Zapatistische Politikverständnis“, URL: http://www.chiapas.at/beitraege/preguntando_caminamos.doc [letzter Zugriff: 02.07.2021].

1 Aufschlussreich sind hierzu z.B. auch die Arbeiten des argentinischen Wissenschaftlers und dekolonialen Denkers Walter D. Mignolo, der sich auch zur zapatistischen Bewegung geäußert hat


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